Der Kälteschock

Die Wetterumstellung, das war von Anfang an klar, würde hart werden. Wer wie ich Wochen und Monate mehrheitlich an der Wärme verbracht und in dieser Zeit weder Jacke noch Pullover in den Händen gehalten hat, wird zuhause ganz schön frieren. Dieser Tempertursturz lässt sich noch etwas schöner gestalten, wenn man vor dem Heimflug eine Nacht und einen Tag im klirrenden Finnland, genauer Helsinki, verbringt. 

Bangkok, sonnig, 32 Grad, Helsinki sonnig, -5 Grad. Dazwischen liegen etwas über elf Stunden Flug im vollgepackten Finnair-Airbus mit braungebrannten und rotverbrannten Nordländern. Genug Zeit, um von T-Shirt, kurzen Hosen und Flipflops auf Winterausrüstung umzustellen. Angekommen am Internationalen Flughafen von Helsinki kann ich endlich das gebrauchen, was ich seit dreieinhalb Monaten mit mir herumschleppe: Thermohemd, Softshell-Jacke, Pullover, Mütze, Handschuhe, Schal, zwei paar Socken. Und trotzdem, die ersten Minuten draussen an der frischen Luft im nächtlichen Helsinki sind bitter – es ist saukalt!!!

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Da die Preise für Hotelzimmer wie überall in Skandinavien auch hier absoluter Wucher sind, und ich von der Stadt absolut keine Ahnung habe, mache ich wieder einmal vom Couchsurfing gebrauch. Noch in Thailand hat mir Tuomas, ein 27-jähriger Finne, ein Bett in seinem Appartment zugesichert. Um 21 Uhr holt er mich am Hauptbahnhof ab. Die Begrüssung ist, obwohl wir uns überhaupt nicht kennen, herzlich. Tuomas ist wie ich vom Reisevirus infiziert, ständig unterwegs, und wenn mal etwas länger Zuhause, dann beherbergt er andere Reisende. Es ist gut, eine lokale Person zu kennen, die sich in den kalten Gassen der Innenstadt auskennt. Lange mag draussen keiner verweilen. Ausser vielleicht der Typ, der unseren Weg kreuzt und nicht anderes trägt als ein weisses T-Shirt. Finnland…

Im Zentrum von Helsinki gibt es zweierlei Restaurants und Bars: diejenigen nahe des Bahnhofs und der berühmten weissen Kirche, und diejenigen etwas weiter nördlich. Klein, gemütlich, etwas versteckt, dafür preiswert. Früher, in den kalten und dunklen Tagen haben die Männer Wärme und Schutz am Lagerfeuer gesucht, sich famose Geschichten über das erbarmungslose Leben in der Wildnis erzählt. Heute, wenn du in Finnland in einer vollen Bar an einem Tisch sitzt, ein Bier oder den finnischen Lakritz-Schnaps Salmiakki trinkst und hast einen freien Stuhl neben dir stehen, brauchst du auf Gesellschaft nicht lange warten. Und die hat es in sich.

Da sich im Winter die Sonne in Skandinavien äusserst rar macht, flüchten sich viele Finnen abends ins Alkohol-Delirium. Trotz der ordentlichen Preise. Dieser Fakt führt mitunter dazu, dass sie es lieben, Geschichten zu erzählen. Eine Vorstellungsrunde wird meist direkt übersprungen, die einzige Frage, die von zentraler Bedeutung ist, lautet: „May I tell you a story?“ Und dann darf man sich Zeit nehmen für die etwas wirren aber witzigen Geschichten über verflossene Liebschaften, Wasserfluten, die 1997 eine Tankstelle und einen Mc Donalds weggespült haben sollen und die Befürchtung eines betrunkenen, dunkelhäutigen Besuchers aus Kanada, dass ihn alle Leute in der Bar anstarren.

Nach einigen Minuten jeweils endet die Geschichte, der Erzähler nimmt einen tiefen Schluck aus seinem Glas, dessen Inhalt er zuvor gefährlich nah über des Zuhörers Hose geschwenkt hat, und torkelt davon, zurück an die Bartheke oder nach draussen in die tiefe Winternacht. Tuomas, mein neuer finnischer Kollege, versichert mir: In der Regel finden sie alle irgendwie zurück nach Hause. Erstaunlich, nicht?