Schlammschlacht

In Vietnam kommt es in der Regel immer anders als man denkt. Planen lässt sich in dem Land, das sich wirtschaftlich wie kein anderes in der Region im Aufbruch befindet, nur schwer. Oft mangelt es an guten Englischkenntnissen, trotzdem gelangen wir bei organisierten Touren stets an unser Ziel. Doch anstatt einem Spa-Aufenthalt in den Bergen erwartet uns eine glitschige Wanderung zurück ins alte Vietnam.

Sa Pa, unweit der chinesischen Grenze ganz im Norden Vietnams, bringt alles mit, was ein Schweizer Bergstädtchen zu bieten hat. Familiäre bis luxuriöse Hotels, geplante Wellness-Anlagen, gemütliche Cafés, unzählige Restaurants und eine fantastische Sicht auf die spektakulären Reisterassen auf über 1600 Metern Höhe. Die bei westlichen Touristen beliebte Reisedestination ist am bequemsten mit dem Nachtzug zu erreichen. Noch bequemer ist es, eine dreitägige Tour gleich im Hotel in Hanoi zu buchen, in dem Thomas und ich immer wieder gastieren. Der Anbieter ist vertrauenswürdig, der Preis gut. Schnell ist alles geklärt. Am nächsten Abend um 21 Uhr geht es los. Um Transport, Tickets und Tour brauchen wir uns nicht zu kümmern.

Ein Hotelangestellter bringt uns direkt ins Schlafabteil des Nachtzuges, wir teilen es mit einem französischen Pärchen. Viel Schlaf kriege ich während der rumpeligen Fahrt nicht, obwohl die Wagen einen Vergleich mit dem europäischen City-Nightline nicht zu scheuen brauchen. Frühmorgens erreichen wir Lao Cai, von hier geht es mit dem Minibus in die Berge hoch. Wir freuen uns, das Hotel beziehen und ein wenig mehr schlafen zu können. Doch daraus wird nichts.

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Denn, wie es hier oft geschieht, ist der Tourplan vollgepackt – ohne dass die Touristen viel davon wissen. Unser Guide, Aye, wir erfahren später, dass er uns in zwei Tagen quer durch das vietnamesische Hinterland führen wird, lässt uns eine knappe Stunde fürs Frühstück, Duschen und bereitmachen. Uns fehlt es an allem: Wanderschuhen, Wander-Outfit, Kräften, Motivation.

Doch Aye kennt kein Erbarmen. Strammen Schrittes geht es voran, die Hauptstrasse runter. Wir und unsere Gefährten, drei Spanier, eine Engländerin und ein Deutscher sowie Australier, die sich als Liechtensteiner ausgeben, werden begleitet von einer Handvoll kleiner Gestalten. Es sind dies die Einheimischen, Hmong genannt. In den Dörfern um Sa Pa gibt es ganz viele traditionelle Bergvölker. Jedes von ihnen kleidet sich anders, doch ihr Ziel ist überall dasselbe: Geld verdienen.

Viele der Einheimischen leben in kärglichen Verhältnissen. Der aufsteigende Tourismus bietet ihnen eine kleine Chance, ihre Lebenssituation zu verbessern. Obschon die meisten von ihnen keine Schulausbildung genossen haben, sprechen sie etwas Englisch. Der Touristen wegen. Denn haben die kleinen Damen, gekleidet in traditionellen Tüchern, ausgerüstet nur mit Schlappen oder Stiefeln und stets einen Korb oder einen kleinen Balg am Rücken tragend, erst einmal eine Reisegruppe entdeckt, heften sie sich an ihre Fersen. Für Stunden.

Wir marschieren aufs offene Land hinaus. Die asphaltierte Strasse weicht einem Kiesweg, der Kiesweg einem schmaler werdenden Trampelpfad. In den Tagen zuvor hat es oft geregnet. Führt der Weg hangabwärts, verkommt er zu einer matschigen Rutschbahn. Dann die Reisfelder. Nach kurzer Zeit stehen wir inmitten von Terrassen, die sich Treppenstufen gleich die Berge hochziehen. Schlamm schmatzt an unseren Füssen, heftet sich genüsslich an die Turnschuhe. Während wir nur mit Mühe vorwärtskommen, spazieren die einheimischen Frauen und unser Guide mühelos über den Morast. Aye’s Schuhe sind immer noch weiss. Wie zur Hölle macht er das?

Auf dem Weg zu unserem Tagesziel, einem Homestay bei einer lokalen Familie, besuchen wir Häuser und Arbeitsstuben der winzigen Dörfer. Sieben Kinder leben hier mit ihren Eltern, Hühnern, Hunden, Katzen und Schweinen in einem Raum. Sie sind an Touristen gewöhnt, strahlen, winken uns verlegen zu. In einem der improvisierten Restaurants nehmen wir einen Lunch ein, bevor es über Stock und Stein, durch Flüsse, dichte Bambuswälder und schmierige Erdpfade weitergeht. Dann endlich, es dämmert schon, erreichen wir unsere Schlafstätte.

Wir schlafen im Dachstock. Massenlager. Gekocht wird über dem Feuer, wir stellen mit unserer Gastfamilie Frühlingsrollen her, Essen an dem kleinen Tisch, trinken Happy Water. Etwas, das keiner von uns mag, das wir aber partout kosten müssen. Und je schneller wir den zähen Reisschnaps kippen, desto mehr schenkt uns Aye nach. Ein Dank an die Familie, ein Hoch hier, ein zum Wohle da. Und tatsächlich, die Runde wird von Stunde zu Stunde lustiger. Aye erzählt uns seine Schelmereien, wie er im nahen China unter Gewehrfeuer Früchte stehlen war, wie er den Nachbarshund mit der Armbrust geschossen und auf den Grill geworfen oder eine seiner Frauen „gekidnappt“ hat.

Beseuselt gehen wir zu Bett. Am nächsten Morgen wird uns ein weiterer halber Tag durch den Schlamm erwarten. Bis zum Lunch wird fast jeder von uns gerutscht sein. Und jeder wird sich von den kleinen Einheimischen überreden lassen, ein Kissenanzug, ein Armreif oder eines ihrer farbigen Tücher zu kaufen. Einen Hundeblick aufsetzend betteln sie immerzu: „Buy this for me?“ Wer kann da beim ersten Mal schon Nein sagen?!