Reykjaviks wilde Isländer

Zugegeben: Der Flug mit 18-stündigem Aufenthalt auf der sagenumwobenen Insel zwischen Europa und Amerika ist nicht die schnellste Verbindung nach New York – und nicht die komfortabelste. Aber mit Sicherheit die spannendste. Seit diesem Jahr fliegt Iceland Air ab Zürich auf die Insel der Vulkane und Geisire, und von dort weiter in die Staaten. Für mich ein 18 Stunden langer nächtlicher Island-Turbobesuch.

Der Flughafen Kevlafik, der fast 50 Kilometer ausserhalb von Reykjavik liegt, befindet sich nicht gerade an märchenhafter Lage. Spuckende Vulkane, tosende Wasserfälle oder spritzende Geisire sucht man hier vergebens. Eine einzige Strasse frisst sich durch die karge Landschaft entlang der Küste, wo kein Gras, keine Bäume, nur Stein und Einöde zu finden sind.

Die Hauptstadt selber ist überschaubar, klein gebaut, wie die landestypischen Pferde. Die Sightseeing-Tour bei Nieselregen hab ich schnell hinter mir, die berühmte Kirche, das bekannte Opernhaus, die geschäftige Laugavegur-Strasse… Noch sind keine drei Stunden vorbei. Solls das schon gewesen sein?

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Mitnichten. Nach einheimischem Lamm, Kartoffeln und Karotten geht’s auf Pub-Suche. Und die gibt es im Stadtzentrum nicht zu knapp. Je mehr die Nacht hereinbricht, weichen die älteren Individualtouristen dem jungen Partyvolk. Wo vorher ein Kaffeehaus war, dröhnt jetzt Tanzmusik aus den Fenstern, wo vor Stunden noch Dunkelheit herrschte, blitzen Lichter und tanzen Menschen. Die ganze Stadt ist auf den Beinen, an jeder Ecke scheint ein Club zu sein, Türsteher halten die wachsenden Menschenschlangen vor dem Eingang in Schach.

Und mit jeder Stunde, mit jedem Glas Bier, das hier, wie überall im Norden, unverschämt teuer ist, werden die Isländer hemmungsloser, ja gar wild wie einst ihre Vorfahren. Füsse zappeln über die Tanzfläche, Hände klatschen, heisere Stimmen johlen durch die Nacht, Gläser fallen zu Boden, die von der nicht enden wollenden Autokarawane unter den Rädern zermalmt werden.

Und das, belehrt mich Jan Alunds (so zumindest scheint er zu heissen), sei erst der Anfang. Wenn die Isländer mal mit dem Feiern beginnen, hören sie damit erst in den frühen Morgenstunden auf. Alunds ist 43, Computerspezialist und gerade ziemlich betrunken. Nichtsdestotrotz verliert er seinen neusten Auftrag nicht aus den Augen: dem Gast aus der Schweiz einen schönen Rausch bescheren. Es geht von Pub zu Bar und weiter zu Club. Alunds wiederholt sich: „Hier ist’s in einer Stunde richtig voll!“ Er wird recht behalten.

4.30 Uhr: Die ersten Bars rufen die letzte Runde aus. Alunds ist mittlerweile verschwunden. Er musste noch hier Bekannte umarmen, da fremde junge Frauen bezirzen. „In Island“, hat er gesagt, „geht es nicht bloss ums Trinken – sondern um den Kontakt.“ Deshalb sei das Reykjaviker Nachtleben das beste europaweit. Und die Frauen die schönsten dazu.

Betrunken, das sind bei Tagesanbruch zumindest alle, was man den sonst eher kühlen und kontrollierten Nordländern in diesem Masse gar nicht zutrauen würde. Ihren Rausch immerhin können sie an diesem Sonntagmorgen ausschlafen, während es für mich bereits wieder an den Flughafen geht. New York wartet.